Norbert M. Schmitz
The Sublime is Now!
Zu den Objekten Armin Künstlers
Wenn man die Objekte Armin Künstlers betrachtet, so findet man sich gleichermaßen in Nähe als auch in Distanz zur eigenen Kindheit. Und doch ist es ein erwachsener und distanzierter Blick, der sich bei Betrachtung der Fundstücke im Miniaturmaßstab von Kinderspielzeugen, wenn nicht Kinderspielzeugen selbst, aufdrängt. Solche ars combinatoria produziert offensichtlich Bedeutung ähnlich ihren vielen kunsthistorischen Vorläufern von den enigmatischen Bildbegriffsspielen der Barock- und Renaissancehumanisten bis hin zu den Collagen der Dadaisten und Surrealisten. Doch es sind weniger zu entschlüsselnde Geheimnisse noch Beschwörungen einer vor- oder alogischen Poetik der Welt, die auf die verlorene Kindheit oder ein verschüttetes Unbewusstes hindeuten. Dafür sind die inszenierten Rahmungen wohl doch zu unterkühlt und die Ironie zu stark. Jede und jeder erinnert sich an den Schrecken des Dunkels unter dem Kinderbett, aus dessen unbestimmten Tiefen die Zähne von Ungeheuern oder die Hände böser Geister drohten. Das Plastikkrokodil Künstlers unter dem Puppenbett beschwört weniger solche Urängste, als dass es uns heiter die Freiheit unseres Erwachsenseins spüren lässt.
Was also passiert hier stattdessen? Zunächst führt uns Künstler an den Punkt zurück, an dem sich im kindlichen Spiel jedes Objekt verlebendigt, aus dem heraus der Raum unter dem Küchentisch oder den scheinbar banalsten Dingen ganze Welten entstehen können. Die Spielzeugobjekte von den steinern wirkenden Zementlegosteinen aus alter DDR-Produktion über mehr oder weniger billige Spielzeugfigürchen bis zu verfremdeten Haushaltsgegenständen bieten gewissermaßen die semiotischen Angelpunkte der infantilen Erzählung, welche die Maßstäblichkeit des realen Raums in die Offenheit einer Topographie der Phantasie transformiert. Und diese eigenwillige psychische Erfahrung wird weniger erinnernd heraufbeschworen als ganz gegenwärtig, gewissermaßen ‚erwachsen‘ neu ins Werk gesetzt. Der Weg der fernöstlichen Plastikrikscha auf dem Deck des Schiffsmodells durch den unendlichen Phantasieraum der Ausstellung Künstlers scheint unermesslich und hat so wenig ein Ziel, wie die andauernde Bedeutungsproduktion der Dinge, auf die wir stoßen.
Nun wäre es banal, bestimmte Geschichten und Assoziationsketten, die sich dem Autor dieser Zeilen aufdrängen, einfach zu erzählen bzw. den Schatz möglicher Bedeutungen fleißig durchzudeklinieren. Doch das muss wohl jede Besucherin oder Besucher sich selbst erzählen und wenn es nicht gelingt, so hat eben kein poetischer Funke geschlagen. Das ist keine subjekivistische Beliebigkeit, sondern der Preis, der so wirkungsintensiven wie individuellen Ästhetik dieser bestimmten Form visueller Lyrik der Moderne. Präzise und beschreibbar muss allerdings die Struktur sein, mit der solche Bedeutungsprozesse potenziell ausgelöst werden können. Es ist ja gerade das Offene des modernen Kunstwerks im Sinne Hugo Friedrichs, das jede klassische Interpretation verbietet, und folgerichtig kann nur die angedeutete Struktur der Öffnung der Form präzisiert werden. Das ist der einzige Horizont vor dem hier sinnvoll zu schreiben ist.
So sei ein Gedanke erlaubt, der sich aufdrängt, wenn man das Spezifische dieser Objekte in Hinsicht auf die vielen anderen Formen des offenen Kunstwerks in allen Gattungen und Medien der Moderne fassen will. Vor allem provozieren die Objekte Künstlers, mehr noch ihre Zusammenstellung in dieser Ausstellung, eine Reflexion über die eigenwilligen Maßstäblichkeiten der Zeit und des Raumes in diesem Werk. Die Dimensionen des Newtonschen Raumes gehen so verloren, wie wir es aus dem kindlichen Spiel erinnern, obwohl wir denselben als erfahrbaren realen vermessenen Ausstellungsraum wie früher einmal die konkreten Ausmaße des Spielzimmers immer zugleich im Bewusstsein haben. Wir durchschreiten das kleine Weltreich von unseren Gnaden als Riese Gulliver. Doch wir wissen, dass derselbe Gulliver wenig später im Lande Brobdingnag zum Zwerg unter Giganten wird. Diesen Verlust der Hierarchien der Größe erfährt man vor den Lego-Miniaturarchitekturen Künstlers wie von einem niedlich kleinen Plastik-Saurier. Doch das Bewusstsein unserer eigenen Maßstäblichkeit, der Bedingtheit der Formen und Kategorien der Weltwahrnehmung, ist ebenso wenig ein Kinderspiel wie Swifts Gulliver ein Jugendbuch. Das Ganze verweist hinter der heiteren und spielerischen Anmutung, mit der uns die Objekte Künstlers zu einer Voyage Imaginaire einladen, auf die Relativität unserer menschlichen Weltwahrnehmung und damit auch auf das Sublime, das Erhabene als seit den Tagen Burkes grundlegender Figur der Ästhetik der Moderne. Denn das Kunstwerk kann dieses im Sinne Kants nicht einfach nur als Repräsentation von unendlichen überwältigenden Objekten, wie den Eindruck gewaltiger Naturereignisse im Kontrast zur kümmerlichen Größe und Hilfsbedürftigkeit des betrachtenden Subjekts erzeugen (wie etwa in einem Seestück mit gewaltigen Sturm). Als Imaginationsraum ist es selbst immer schon Differenz zum banalen Kontinuum des Gewöhnlichen als messbare Ausdehnung einer Leinwand im Museumsraum oder einer Bronzeskulptur von dieser oder jener bestimmen Größe. Der gewöhnliche Rezeptionsakt jedes ästhetischen Objektes gewinnt demgegenüber die Freiheit des Subjektes. Denn in seiner Imagination beispielweise bei einer Höllendarstellung im Miniaturformat hebt es die Bedingungen seiner realen Größe und der Restriktionen des Newtonschen Raums auf. Insofern ist Kunsterlebnis vielleicht nicht immer, aber doch im häufigsten Fall eine temporäre Wiederaneignung der kindlichen Freiheit, sei es, dass wir die kleinen Männlein in der Alexanderschlacht Altdorfers als mutige Helden erkennen, sei es, dass wir ein Plastikpüppchen in einem Objekt Künstlers als einen versehrten Leichnam deuten. Beides sind Erhabenheit in nuce.
Also geht es doch um die romantische Beschwörung des genialen Kindes, in dessen Ursprünglichkeit wir uns zurückversetzen sollten? Das Werk Künstlers, und eben auch darin ist es bedeutungsoffen, gibt hierauf keine Antworten. Allerhöchstens ist anzumerken, dass seine abgeklärte und reduzierte Stilistik jeden Romantizismus im Sinne modernistischer Konventionen nun nicht gerade nahelegt. Man kann diese Arbeit aber auch anders deuten. Künstler parodiert demnach jeglichen möglichen Pathos, denn das Erhabene wird aufs Spielerische reduziert und dieses Spielerische von der Behauptung tiefster Sinnhaftigkeit ins lustvoll absurde, ein sehr ‚erwachsenes‘ Absurde überführt. Barnett Newmans Frage ‚Who's Afraid of Red, Yellow and Blue?’ wird hier nun anhand dreier Bauklötzchen gestellt und qua Maßstab in die Freiheit des Menschen gebracht. The Sublime is Now! Der berühmten pathetischen Feststellung Lyotards steht hier eine eigentümliche Form der Erhabenheit gegenüber, die ganz unpathetisch so um ihre eigene Skurrilität weiss, wie sie sich des Umstandes immer gegenwärtig ist, dass wir dieses Kinderzimmer jederzeit verlassen können.
Zum Autor
Norbert M. Schmitz, Dr. phil., Professor für Ästhetik an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Kunst- und Medienwissenschaftler. Lehrtätigkeiten an Universitäten und Kunsthochschulen in Wuppertal, Bochum, Linz, Salzburg und Zürich. Methodische Arbeiten zu Fragen der Intermedialität von bildender Kunst und Film, Ikonologie der alten und neuen Medien, Diskursgeschichte der Kunstwissenschaft, des Kunstsystems und der Medientheorie, Methodik der modernen Bildwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind die klassische Filmgeschichte, Avantgardefilm und Kulturgeschichte der Moderne.
Vortragstätigkeit im In- und Ausland (Österreich, Schweiz, Frankreich, USA, Indien, China, Iran, Nepal und Pakistan).